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In Hohenwart, einer 5000-Einwohner-Gemeinde in Oberbayern, wird derzeit an einer Revolution gearbeitet. Dort zeigt das Projekt H2Direkt, wie bestehende Gasverteilnetze effizient, sicher und klimaneutral auf 100 Prozent Wasserstoffbetrieb umgestellt werden können. Ein deutschlandweit einmaliger Feldversuch, der inzwischen eine der wichtigsten Antworten auf die Frage nach einer machbaren Energiewende liefert.
Seit Herbst 2023 heizen zehn Haushalte und ein Gewerbebetrieb in Hohenwart mit reinem Wasserstoff, eingespeist in ein ursprünglich für Erdgas gebautes Verteilnetz. Dass es dabei nicht bei einer bloßen Machbarkeitsstudie blieb, sondern ein realer, unter Alltagsbedingungen funktionierender Netzbetrieb entstand, unterstreicht die Tragweite dieses Projekts. Der Härtetest kam im Winter – und wurde mit Bravour bestanden.
„Selbst bei Temperaturen bis minus 15 Grad war auf die gesamte Wasserstoffinfrastruktur und die neuen Heizungen Verlass“, berichtet Michael Schneider, Geschäftsführer der Energienetze Bayern GmbH & Co. KG. „Im Fokus stand die Wasserstofftauglichkeit der bestehenden Infrastruktur. Und sie zeigte im laufenden Betrieb: es funktioniert.“
Die Projektpartner – Energie Südbayern (ESB), Energienetze Bayern und die Thüga AG – ziehen nach fast zwei Jahren eine durchweg positive Bilanz.
Technisch verlief die Umstellung bemerkenswert reibungslos: Nachdem im Herbst 2023 die neu errichtete Wasserstoff-Einspeiseanlage den Betrieb aufnahm, wurde das Netz innerhalb weniger Tage vollständig von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt. Im Netz selbst waren keine Umrüstungen nötig – sämtliche Leitungen, Armaturen und Verbindungselemente erwiesen sich als H₂-kompatibel. Durch seine Auslegung ist das Verteilnetz auch für den höheren Durchfluss von Wasserstoff geeignet.
Lediglich bei den Endgeräten im Haus mussten Anpassungen vorgenommen werden: Die Gasheizungen wurden durch 100-Prozent-Wasserstoff-Brennwertthermen des Herstellers Vaillant ersetzt, und die Gaszähler wurden wegen des höheren Volumenstroms ausgetauscht.
„Unsere Betriebsmannschaft hat H2Direkt von Tag eins an nahtlos in ihre Abläufe integriert“, berichtet Mathias Stierstorfer, Regionalleiter Nord bei Energienetze Bayern. Für die Kunden bedeutete der Umstieg keine Umstellung im Alltag: Druck, Heizleistung und Betriebsgeräusche blieben unverändert. Wie beim Erdgas wurde ein Odoriermittel eingesetzt, um potenzielle Undichtigkeiten im Gas wahrnehmbar zu machen – Wasserstoff selbst ist geruchlos.
Dr. Christoph Ullmer, Leiter des Kompetenzcenters Innovation bei Thüga, sieht in H2Direkt ein zukunftsweisendes Modell: „In Hohenwart setzen wir konkret in die Praxis um, was wir seit Jahren fordern: Dort, wo es sinnvoll ist, sollten Verteilnetze mit erneuerbaren Gasen wie Wasserstoff betrieben werden. Es funktioniert – die Gasnetze sind dafür geeignet.“
Er betont, dass Deutschland technologieoffen denken muss, um die Energieversorgung nachhaltig zu gestalten: „Wir müssen sowohl Elektronen als auch Moleküle nutzen. Die Transformation der Gasnetze bietet eine wichtige, rasch umsetzbare Option.“
Doch damit diese Option tatsächlich flächendeckend realisiert werden kann, braucht es vor allem eines: klare politische Rahmenbedingungen. Die Projektpartner fordern von der Bundesregierung daher, Investitions- und Planungssicherheit für Netzbetreiber zu schaffen, die in eine wasserstoffbasierte Zukunft investieren wollen.
H2Direkt ist Teil des bundesweiten Wasserstoff-Leitprojekts TransHyDE, das vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt gefördert wird. Ziel ist es, Wasserstoff-Transportlösungen systematisch zu bewerten und im realen Betrieb zu testen.
Simon Batdorf, Projektleiter H2Direkt bei Thüga, sieht die Ergebnisse als hochgradig skalierbar: „Sie lassen sich auf andere Netzbereiche übertragen – etwa zur Versorgung von Industriebetrieben, Wohnquartieren oder gemischten Gewerbegebieten. Für die Transformation der Netzinfrastruktur liefert Hohenwart wertvolle Erkenntnisse – sowohl für die Technik als auch für die Akzeptanz.“
Eine weitere Erkenntnis: Die Akzeptanz der Nutzer ist hoch. Die teilnehmenden Haushalte und der Gewerbekunde wurden regelmäßig befragt und die Rückmeldungen fielen durchweg positiv aus. Viele der Beteiligten zeigten sich stolz, Teil eines zukunftsweisenden Projekts zu sein. Dass es sich bei Wasserstoff um einen „neuen Energieträger“ handelt, spielte für die meisten Kunden im Alltag keine Rolle – Hauptsache, die Wärme kommt zuverlässig.
Ein unerwarteter Nebeneffekt: Die mediale und öffentliche Aufmerksamkeit rund um das Projekt hat das Bewusstsein in der Region für die Energiewende und ihre technischen Möglichkeiten deutlich geschärft.
Ursprünglich war H2Direkt auf eine Laufzeit von 18 Monaten angelegt. Der Projektzeitraum wurde nun bis vorläufig Ende 2025 verlängert. Geplant ist darüber hinaus der weitere Betrieb mit 100 Prozent Wasserstoff im Folgeprojekt H2Dahoam.
H2Direkt hat bewiesen, dass die Umstellung bestehender Gasverteilnetze auf 100 Prozent Wasserstoff technisch machbar, wirtschaftlich realisierbar und gesellschaftlich akzeptiert ist.
Hohenwart hat sich – kaum sichtbar, aber dafür umso wirksamer – in ein Pilotprojekt für die deutsche Energiewende verwandelt. H2Direkt zeigt in der Praxis, was auf dem Reißbrett oft nur Theorie bleibt: Eine bestehende Infrastruktur kann für eine klimaneutrale Zukunft ertüchtigt werden – ohne Komplettabriss, ohne fundamentale Systemwechsel, aber mit mutiger Umsetzung.
Für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stellt sich daher nicht mehr die Frage, ob Wasserstoff im zukünftigen Energiemix eine Rolle spielen kann. Die Frage lautet: Wann und wie schnell können wir skalieren?!