Generative Künstliche Intelligenz (KI) kann die Produktivität erheblich steigern. Was das für die Arbeitswelt der Zukunft bedeutet, erklären die McKinsey-Expertinnen Anna Wiesinger und Sandra Durth im Interview.
Die McKinsey-Partnerinnen Sandra Durth (links) und Anna Wiesinger plädieren dafür, KI-Technologien als Chance für Wirtschaft und Gesellschaft zu sehen. Foto: McKinsey
Wenn wir auf die Geschwindigkeit der Einführung von generativer KI (genAI) schauen: Wo steht Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen Ländern und den USA?
Durth: Innerhalb Europas sehe ich Deutschland in der Spitzengruppe; wir verfügen über die größte Anzahl an genAI-Startups im privaten Sektor. Allerdings hat Europa gegenüber den USA noch deutlich Aufholpotenzial. Denn erstens investieren hiesige Unternehmen weniger in die neue Technologie, und zweitens ist der hiesige Arbeitsmarkt weniger dynamisch, unter anderem wegen fehlender Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten. Für die Einführung neuer Technologien brauchen die Menschen eben auch neue Fähigkeiten.
Wiesinger: Hinzu kommt, dass wir in Europa generative KI vor allem aus einer Risikoperspektive betrachten: Oft sehen wir die Risiken als unüberwindbare Hürden, obwohl es gute Wege gibt, sie zu managen. Wir diskutieren viel darüber, welche Regulierung wir brauchen. Wir müssen aber auch die neuen Technologien ausprobieren, um sie zu verstehen und für unseren Fortschritt nutzen zu können.
Inwieweit kann generative KI die Produktivität steigern?
Wiesinger: Unsere Analyse zeigt, dass genAI das Produktivitätswachstum bis 2040 um 18 Prozent steigern kann – ein enormes Potenzial. Die Technologie hilft vor allem beim Umgang mit Inhalten wie Texten oder Bildern und beim Management von Daten, aber auch bei Kollaboration und Kreativität.
In welchen Branchen wird diese Technologie den größten Einfluss haben?
Durth: KI wird alle Branchen beeinflussen, allerdings nicht im gleichen Ausmaß. Besonders starke Auswirkungen sehen wir beispielsweise im Bildungswesen. Mittels generativer KI können wir jedem einen personalisierten Coach zur Seite zu stellen, der Inhalte im richtigen Moment vermittelt. Ob in der Schule, bei der Nachhilfe oder in der Weiterbildung – Lehren und Lernen kann so viel effektiver und effizienter funktionieren. Auch in stark von fachlicher Expertise getriebenen Branchen hat genAI großes Potenzial, die Produktivität zu steigern. Im Rechtswesen können etwa Verträge und andere Rechtsdokumente automatisch von genAI erstellt werden. Wenn die KI simplere Routineanfragen beantwortet, bleibt Mitarbeitern mehr Zeit für komplexe Themen.
Kann generative KI helfen, dem Fachkräftemangel zu begegnen?
Durth: Ja, da gibt es erhebliches Potenzial. Erstens kann genAI wie beschrieben die Weiterbildung erleichtern. Zweitens zeigt unsere Studie, dass sich durch den Einsatz von genAI und weiterer Technologien bis 2030 rund 30 Prozent aller Arbeitsstunden automatisieren lassen. Allerdings gilt das nicht für alle Berufsgruppen gleichermaßen.
Wiesinger: Wir haben wirklich die Chance, ein großes Problem der Wirtschaft und letztlich auch der Gesellschaft zu lösen. Besonders viele Fachkräfte fehlen etwa bei der Ausbildung von Arbeitskräften, in den MINT-Berufen, die mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu tun haben, und im Gesundheitswesen. Hier zeigt unsere Analyse großes Potenzial, Aufgaben durch Technologien wie genAI zu automatisieren – KI kann also die Produktivität steigern und so Engpässe beim Personal deutlich abmildern. In vielen anderen Bereichen mit einem Mangel an Arbeitskräften, beispielsweise im Kundenservice, im Vertrieb oder bei Transportdienstleistungen, sehen wir immerhin ein begrenztes Automatisierungspotenzial durch genAI. Auch hier kann die neue Technologie also helfen und es macht Sinn, ihre Anwendungsmöglichkeiten konsequent zu prüfen.
Welche Qualifikationen brauchen Mitarbeiter in einer von generativer KI geprägten Arbeitswelt?
Durth: Die Fähigkeit, mit KI-Modellen zu interagieren, wird zur Schlüsselqualifikation – nicht nur bei Tech-Fachkräften, sondern bei allen Mitarbeitern. Wie gebe ich der KI die relevanten Informationen zum Gesamtkontext? Wie erkläre ich, was mein Ziel ist? Wie interpretiere ich ihre Antworten? In Zukunft muss das jeder Berufstätige beherrschen.
Wiesinger: Der Umgang mit KI-Tools lässt sich auf Dauer nicht an IT-Experten auslagern, weil ihnen das spezifische Wissen der Fachkräfte fehlt. Im Gesundheitsbereich beispielsweise muss medizinisches Personal die Ergebnisse von KI-Anwendungen interpretieren.
Wie sieht es bei Führungskräften aus?
Durth: Sie können in besonderer Weise von der Interaktion mit genAI-Tools profitieren. Beispielsweise können KI-Modelle enorme Datenmengen durchdringen, Führungskräften schnell wichtige Informationen liefern und ihnen so helfen, sich auf das Treffen besserer Entscheidungen zu konzentrieren oder Arbeitsprozesse ganz neu zu denken. Voraussetzung ist allerdings, dass Führungskräfte in der Lage sind, strategische Herausforderungen in einen technisch optimierten Prozess zu übersetzen. Nur mit diesem Wissen können sie entscheiden, wo und wie der KI-Einsatz für sie und das Gesamtunternehmen sinnvoll ist. Da sehe ich großes Weiterbildungspotenzial.
Weiterbildung funktioniert nur, wenn Menschen bereit sind, sich auf Neues einzulassen. Wie gelingt es, Beschäftigte ins KI-Zeitalter mitzunehmen?
Durth: Aus Umfragen wissen wir, dass fast jeder generative KI schon mal ausprobiert hat. Grundsätzlicher Widerstand ist daher nicht zu erwarten. Die Frage lautet eher: Wie stelle ich sicher, dass die produktive KI-Nutzung im Arbeitsalltag verankert wird?
Wie können Unternehmen das sicherstellen?
Durth: Disziplin bei der Umsetzung von Change-Maßnahmen ist entscheidend. Das reicht von der Schulung der Mitarbeiter über Rollenmodelle bis hin zur aktiven Leistungskontrolle. Unsere Untersuchungen zeigen, dass erfolgreiche Unternehmen häufig über ein gut ausgebautes System zur Leistungsmessung verfügen, um den Nutzen von KI-Anwendungen zu bewerten und zu überwachen. Außerdem legen sie großen Wert darauf, dass auch ihre nicht-technischen Mitarbeiter das Potenzial von KI verstehen. Ich mache das mal an einem eigenen Beispiel deutlich: Bei McKinsey nutzen wir das KI-Tool Lilli, dass all unsere Wissensdatenbanken kombiniert und direkt mit unserem Learning-Tool verlinkt ist. Wenn ich also per Prompt nach etwas frage und dieses Tool merkt, ich brauche eigentlich Hilfe beim Prompting, dann werde ich direkt zu relevanten Inhalten geführt. Solche Formen der Weiterbildung sind genau auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten – niemand wird abgehängt.
Wiesinger: Es braucht zudem ein KI-freundliche Arbeitskultur. Sie trägt dazu bei, dass sich die Mitarbeiter mit der Technologie wohler fühlen und eher bereit sind, neue Fähigkeiten zu erlernen. Dabei helfen zum Beispiel Formate, bei denen sich Mitarbeiter mit ähnlichen Aufgaben austauschen können. So bauen sie schneller KI-Wissen auf. Viel Ausprobieren, viel Austausch – das wäre mein grundsätzlicher Rat. Wenn ein Unternehmen selbst KI-Anwendungen erstellen will, werden allerdings ganz andere Fähigkeiten gebraucht. Die Organisation muss dann genauer hinschauen, welche Experten für Datenanalyse, Large Language Models und KI-Ethik gebraucht werden. Diese Lücken lassen sich durch Recruiting und interne Weiterbildung schließen.
Was könnte den erfolgreichen Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt einschränken oder gar verhindern?
Wiesinger: Unsere Angst. Angst darf nicht das vorherrschende Gefühl sein, das beim Stichwort KI aufkommt. Wir müssen es schaffen, dass die Neugierde überwiegt.
Durth: Die Technologie birgt das Potenzial, unsere Wirtschaft wieder produktiver zu machen. Für den Einzelnen bietet der Wegfall von Routineaufgaben Möglichkeiten, seinen Job spannender zu gestalten. KI bedeutet also eine große Chance für Deutschland und für alle Arbeitnehmer – darüber sollten wir sprechen.