Die EU plant den Übergang zur Kreislaufwirtschaft. McKinsey-Nachhaltigkeitsexperte Stefan Helmcke über Herausforderungen beim Recycling, nachwachsende Rohstoffe – und eine Milliarden-Euro-Chance für Start-ups.
Wie unterscheidet sich das Konzept der Circular Economy von unserer momentanen Form des Wirtschaftens?
Der grundlegende Unterschied besteht im stärkeren Recycling von Rohstoffen. Denn derzeit erleben wir eine überwiegend lineare Form des Wirtschaftens - salopp gesagt: eine Wegwerfgesellschaft. Das bedeutet, wir erzeugen unter Rohstoffeinsatz Produkte, die wir nach ihrem Nutzungsende entsorgen. Zwar findet neben der thermischen Verwertung auch eine teilweise stoffliche Wiederverwertung statt, in der Regel aber im Sinne des Downcycling: Aus dem gewonnenen Material kann kein gleich- oder gar höherwertiges Produkt hergestellt werden. Im Unterschied dazu basiert das Modell der Kreislaufwirtschaft darauf, auch durch neuartige Verfahren Rohstoffe wiederzugewinnen, aus denen sich mindestens gleichwertige neue Güter fertigen lassen. Nachwachsenden Rohstoffen kommt mit neuen Technologien ebenfalls eine große Bedeutung zu. Und auch die längere und intensivere Nutzung von Produkten gehört zum Konzept der Circular Economy.
Welches Potenzial bietet die Transformation zur Kreislaufwirtschaft im Hinblick auf den Klimaschutz?
Ein Viertel aller globalen CO2-Emissionen geht allein auf die Herstellung, Verwendung und Entsorgung von Industriematerialien wie Stahl, Plastik, Aluminium und Zement zurück. Insofern besteht hier enormes Potenzial für den Klimaschutz. Die Dekarbonisierung von diesen Wertschöpfungsketten kann oft überhaupt nur gelingen, indem wir mehr recyceltes Ausgangsmaterial einsetzen – so wie wir grünen Strom brauchen, brauchen wir auch mehr nachhaltige Rohmaterialien. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Circular Economy eröffnet gerade einem rohstoffarmen Land wie Deutschland die Chance, sich unabhängiger von Importen zu machen.
Was sind die Voraussetzungen, damit der Übergang zu dieser neuen Wirtschaftsform in Europa gelingen kann?
Es braucht in vielen Bereichen vor allem neue Recycling-Verfahren, was wiederum heißt: neue Technologien. Im Falle von Plastik zum Beispiel bedeutet eine rein mechanische Wiederverwertung durch Zerkleinern und Einschmelzen fast immer ein Downcycling. Beim chemischen Recycling dagegen, das im Rahmen kleiner Pilotprojekte bereits funktioniert, wird Plastik in Gas oder Flüssigkeit aufgelöst. So entsteht wieder ein hochwertiges Ausgangsmaterial, aus dem sich sogar wieder Lebensmittelverpackungen herstellen lassen. Damit wiederverwertbares Material tatsächlich in die Recyclinganlagen gelangt, kommt es zudem auf die intelligente Lenkung der Abfallströme an.
Welche Rolle spielen digitale Lösungen auf dem Weg zur Circular Economy?
Eine große. Ich habe beispielsweise gerade mit den Chefs einer Firma gesprochen, die Anwendungen für Quantencomputer entwickelt. Ich war wirklich überrascht, dass tatsächlich das effiziente Sortieren von Müll als eines der attraktivsten Einsatzgebiete gesehen wird. Die extrem hohe Rechenleistung eines Quantencomputers würde es ihrer Einschätzung nach ermöglichen, in einem schnellen, sehr heterogenen und chaotischen Materialfluss einzelne Stoffe sicher zu identifizieren und auszufiltern. Das ist wichtig, denn oft reduziert ein Materialmix die Qualität der beim Recycling entstehenden Sekundärrohstoffe erheblich – Plastik ist leider nicht einfach Plastik.
Es entstehen also neue Geschäftsmodelle?
Ja, denn Rohstoffknappheit und steigende CO2-Preise relativieren aus Sicht vieler produzierender Unternehmen höhere Kosten für hochwertige und nachhaltige Sekundärrohstoffe. Unter diesen Rahmenbedingungen lohnt es sich, neue Technologien für die Abfallsortierung, die chemische Wiederverwertung von Kunststoffen oder auch das Recycling alter Reifen oder Batterien zu entwickeln. In diesen Bereichen sehen wir bereits etliche Gründungen. Weitere werden folgen, denn das Wertschöpfungspotenzial in Höhe von bis zu 370 Milliarden Euro, das in den nächsten Jahren im Recyclingsektor entstehen wird, bedeutet gerade für Start-ups eine enorme Chance. Hinzu kommen weitere Felder, auf denen sich einiges tut: Beim Thema Müllvermeidung gibt es junge Digitalunternehmen, die Second- und Multi-Use-Konzepte etablieren. Und bei den nachwachsenden Rohstoffen stehen wir gerade am Beginn einer Revolution.
Worin besteht diese Rohstoff-Revolution?
Es gibt bereits viele Unternehmen beziehungsweise Forscher, die zeigen, dass zum Beispiel auf biochemischem Weg via Fermentierung und Proteinsynthese komplexe Materialien mit höchstwertigen Eigenschaften erzeugt werden können. Denken Sie an seidenähnliche Fasern für die Textilindustrie oder für die Innenräume unserer Fahrzeuge. Weitere Beispiele sind zementähnliche Materialien, die sich mit Hilfe von Bakterien herstellen lassen. Im Prinzip könnten irgendwann ganze Straßen entstehen, indem man Bakterien in eine Nährlösung ausbringt. Langfristig erwarten wir sogar, dass viele Werkstoffe aus CO2 hergestellt werden, das wird allerdings viel erneuerbare Energie genauso wie neue Katalysatoren brauchen. Das sind unglaubliche Innovationen, denen sicherlich noch viele weitere folgen werden.
Sind neue Technologien also der entscheidende Faktor beim Aufbruch in Richtung Kreislaufwirtschaft?
Sie spielen eine wichtige Rolle, aber es gibt auch andere Faktoren von entscheidender Bedeutung. So erfordert die Circular Economy in vielen Bereichen die Kooperation von Akteuren, die zuvor wenig miteinander zu tun hatten. Es müssen neue Ökosysteme entstehen, entweder indem die Beteiligten ökonomische Vorteile für sich erkennen oder indem der Staat entsprechendes Handeln einfordert.
Wo denn zum Beispiel?
Schauen wir auf den Bausektor: Weil es in der Regel verschiedene Unternehmen sind, die Abriss und Neubau von Gebäuden erledigen, wird alter Beton nur in sehr überschaubarem Umfang als Ausgangsmaterial für neue Bauten genutzt. Dabei ist die Beimischung von 20 bis 30 Prozent geschreddertem Recyclingmaterial oft problemlos möglich. Dieses Vorgehen wäre zudem dringend geboten, denn Zement ist eines der Materialien, die am schwersten zu dekarbonisieren sind. Der CO2-Ausstoß ist prozessimmanent, weil Kalkstein als wesentliches Rohmaterial bei hohen Temperaturen zu Zementklinker gebrannt werden muss und hier CO2 als chemisches Nebenprodukt entsteht. Eine Beimischung kann insofern einen recht einfachen Hebel darstellen, um den CO2-Ausstoß im Bausektor zu senken. Dieser Einsatz senkt zudem den Rohstoffverbrauch und damit sogar die Kosten – für Bauherren sicher ein ebenso willkommener Effekt.
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