Resilienz ist eine der großen Stärken der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV). Sie hat in ihrer nunmehr über 130 Jahre langen Geschichte schon so manche Krise durchlebt und überstanden. Im Gespräch mit Harald Joos, CIO des größten deutschen Rentenversicherungsträgers, und Urs M. Krämer, CEO der Management- und IT-Beratung Sopra Steria, über Krisenfestigkeit, Wettbewerbsvorteile und die Wandlungsfähigkeit großer Unternehmen und Organisationen.
Herr Joos, blicken Sie als CIO der Deutschen Rentenversicherung Bund eigentlich gelassener auf ein Krisenjahr wie 2020? Ihr Arbeitgeber hat schließlich weit Schlimmeres durchgestanden als eine Pandemie, allein zwei Weltkriege.
Joos: Wir sind in der Tat gut durch das Jahr 2020 gekommen. Wenn ich mir die Frage stelle, welches „C“ die Digitalisierung 2020 bei uns am weitesten vorangebracht hat, dann muss ich ehrlich sagen, es waren nicht der CIO oder der CDO, sondern es war Corona. Insofern kann ich der Krise durchaus Gutes abgewinnen. Sie hat vieles in Schwung gebracht, vieles beschleunigt.
Bedeutet diese historisch erworbene Krisenresistenz, dass Sie jetzt gar nicht handeln müssen? Klappen zu und im festen Bewusstsein durch die Krise, dass sich jeder Sturm letztlich legt?
Joos: Das wäre ein fataler Trugschluss.
Die gesetzliche Rentenversicherung stand häufig in der Kritik und seit ihrer Gründung 1889 auch schon oft mit dem Rücken zur Wand. Warum gibt es sie heute immer noch?
Joos: Kritik zu äußern ist leicht, denn es gibt nichts, was perfekt ist. Wenn ich die sozialen Sicherungssysteme weltweit betrachte, dann sehe ich, dass wir in Deutschland über eines der beständigsten und besten Sicherungssysteme verfügen. Die gesetzliche Rentenversicherung hat sich immer wieder an veränderte Rahmenbedingungen angepasst, das macht ihre Stärke aus. Wir tragen maßgeblich zur sozialen Sicherheit mit bei. Das ist etwas, was mit Sicherheit Sinn macht. Deswegen glaube ich, dass wir uns zwar weiter verändern werden und verändern müssen. Aber es wird uns noch eine ganze Weile weiter geben.
Welche Behörde schafft sich schon selbst ab ...
Joos: ... entschiedener Einspruch. Wir sind ein Unternehmen, keine Behörde. Das gilt auch und gerade für die IT-Einheit von rund 1.000 Mitarbeitenden, der ich vorstehe. Ich sage meinen Leuten immer wieder, dass wir ein Unternehmen sind, das zufällig in einer Behörde angesiedelt ist. Und so auch entsprechend wirtschaften und handeln müssen. Die Krisenfestigkeit unseres Systems haben wir im Corona-Jahr 2020 nachdrücklich unter Beweis gestellt. In Sachen Modernität, vor allem bei unseren Services, haben wir dagegen im Vergleich mit vielen privaten Unternehmen noch einiges Verbesserungspotenzial. „In drei Klicks zur Rente“, da haben wir noch einiges vor uns.
Herr Krämer, aus Sicht des externen Beraters. Was macht die Deutsche Rentenversicherung Bund besser als andere? Oder hat sie nur das Glück, dem Staat zu gehören?
Krämer: Auch Behörden oder Unternehmen im Staatsbesitz müssen ihre Existenzberechtigung immer wieder unter Beweis stellen. Von außen betrachtet macht die Deutsche Rentenversicherung sehr, sehr viel richtig. Was mir vor allem positiv auffällt und was manch anderem Unternehmen fehlt, ist die hohe Selbstreflexion. Zudem schafft es die Deutsche Rentenversicherung seit langer Zeit, eine immense Zahl an Transaktionen mit hohen Volumina in hoher Regelmäßigkeit zu bewältigen. Ich kenne keinen einzigen Bericht, wonach Renten nicht pünktlich auf den Konten der Versicherten gelandet wären. Klingt banal, ist es in der IT- und Managementpraxis aber keineswegs. Wir als Technologieberatende wissen genau einzuschätzen, welcher Aufwand und welche Leistung dahinterstecken. Das ist keineswegs lapidar.
Inwieweit ist das Prinzip der Wettbewerbsfähigkeit überhaupt relevant für die DRV – und sollte sie sich danach ausrichten?
Joos: Auch wenn unsere Produkte gesetzlich vorgegeben sind, müssen wir diese so attraktiv wie möglich machen. Wir werden daran gemessen, wie einfach unsere Services von unseren Kunden genutzt werden können, wie erreichbar und verfügbar diese Services sind.
Sie sprechen von „Kunden“, nicht von „Versicherten“?
Joos: Genau. Das entspricht unserem Selbstverständnis als serviceorientiertes Unternehmen. Wir werden mit unseren Produkten noch zu häufig auf die gesetzliche Rente reduziert. Auch wenn dies eines unserer wichtigsten Produkte ist, gibt es wesentlich mehr bei uns. Wir sind der größte Anbieter von Rehabilitationsleistungen, wir haben mit der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen eine der modernsten Behörden, und wir führen die Betriebsprüfungen durch. Das sind nur einige Beispiele.
Getreu dem Motto „What’s your Edge?“: Welche Wettbewerbsvorteile hat die DRV?
Joos: Das sind in allererster Linie engagierte und innovative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir konkurrieren am Arbeitsmarkt um die besten Fach- und IT-Kräfte. 2020 ist es uns gelungen, für die IT-Abteilung rund 250 neue Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen. Und das, ohne sie zu verbeamten. Unsere Kampagne „Echte IT“ hat großen Anklang gefunden, und wir werden uns auch zukünftig diesem Wettbewerb stellen. Wir konkurrieren sehr stark mit anderen. Doch der „Faktor Geld“ ist nicht das, womit wir punkten können. Sie können woanders als IT-Experte sicher mehr verdienen. Wir punkten mit anderen Vorteilen, etwa unserer Arbeitsatmosphäre, der Sinnhaftigkeit der Aufgabe und wirklich vielen Tätigkeiten, die Spaß machen.
Krämer: Ganz richtig erkannt. Den Wettbewerbsvorteil von IT- und Serviceunternehmen machen vor allem die Experten in bestimmten, nachgefragten Segmenten aus. Herr Joos und ich könnten auf der Stelle sicher ein Dutzend Jobprofile von Menschen nennen, die wir beide mit Kusshand direkt morgen für unsere Unternehmen einstellen würden. Wer diese raren Talente jetzt für sich rekrutieren kann, liegt im Wettbewerb vorn. Daher muss die DRV sicherstellen, dass sie im Wettbewerb um diese Köpfe mithalten kann. Die Chancen dafür stehen gut.
Herr Krämer, steht die DRV beispielhaft für die Fortschrittlichkeit der deutschen Verwaltung?
Krämer: Es gibt nicht „die“ Verwaltung. Die Deutsche Rentenversicherung Bund oder auch die Bundesagentur für Arbeit sind riesige Organisationen, die nahezu wie privatwirtschaftliche Unternehmen arbeiten und auch organisiert sind. Die sind in Sachen Digitalisierung Vorreiter. So weit sind andere Verwaltungseinheiten, gerade auf Länder- oder kommunaler Ebene, noch nicht. Es gibt, kurz gesagt, bereits viel Licht, aber auch noch Schatten. Besonders im Bildungsbereich oder bei der Organisation der kommunalen Gesundheitsämter zeigt sich derzeit, wie groß der Nachholbedarf teils noch ist auf dem Weg zur wirklich digitalen Verwaltung.
An welchen Benchmarks lassen Sie sich messen, Herr Joos?
Joos: Kosten, Qualität, Sicherheit, Attraktivität des Arbeitgebers, um einige zu nennen.
Die Corona-Pandemie hat die Vorteile der Digitalisierung klar aufgezeigt – aber auch die Rückständigkeit Deutschlands in vielen Bereichen, wie technische Hürden, Personalratsgrundsätze, Führungskulturen oder das eigene Arbeitsverhalten. Wie weit ist die Deutsche Rentenversicherung Bund im Bereich der Digitalisierung?
Joos: Unterschiedlich weit. In einigen Bereichen sind wir weit vorn, in anderen Bereichen haben wir noch ein größeres Potenzial, was wir nutzen müssen. Mit der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen haben wir eine der modernsten Behörden; agile Softwareentwicklung nach SCRUM wird dort – von Fach- und IT-Seite gemeinsam – seit 2013 gelebt. In anderen Bereichen haben wir noch einen längeren Weg vor uns. Wichtig für die Digitalisierung ist, dass wir die Arbeitskultur ändern. Das machen wir, es lässt sich allerdings nicht anordnen. Unsere internen Werte müssen wir auch vorleben. Die Rolle der Führungskräfte hat sich hier gravierend geändert und wird sich auch weiter ändern.
Krämer: Serviceorganisationen müssen radikal umdenken und verinnerlichen, dass sie IT-Unternehmen sind. Jeder muss verstehen – und das nicht nur in Behörden, sondern etwa auch in Banken –, welch wesentlicher Innovationstreiber die IT für Organisationen darstellt. Was wir derzeit erleben, ist die Hochzeit der „VUCA“-Welt aus Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Wir erleben, dass sich die Veränderung in einem bis dato unvorstellbar rasenden Tempo vollzieht. Als Manager müssen Sie die Veränderung annehmen, gestalten, aber Sie werden es niemals schaffen, sich dagegenzustemmen. Da können Sie nur verlieren und gehen unter.
Wie überleben Unternehmen und Organisationen diese Flut an gleichzeitiger Veränderung?
Krämer: Unter dem Strich müssen Unternehmen stets vom Kunden her denken. Das klingt so einfach, so banal und ist doch in der Praxis so schwierig. Gefühlt bekommen 98 Prozent der deutschen Unternehmen das nicht gut hin. Dazu gehört, dass Organisationen alle Widerstände ablegen und sich im Kopf komplett freimachen. Nur dann kann man das Denken auf den Kopf stellen und komplett vom Markt und vom Kunden her überlegen.
Joos: Das ist völlig richtig. Genau daran arbeiten wir bei der Deutschen Rentenversicherung. Deshalb haben wir Ende 2019 den ersten Chief Digital Officer (CDO) eingestellt, der mit frischem Blick von außen kam und uns bei der Transformation unterstützt.
Wo hakt es denn noch auf dem Weg zur agilen Organisation?
Joos: Daran, Hierarchiedenken abzubauen, Neues auszuprobieren, weniger selber zu machen, dafür mehr zu steuern. Wir müssen bereit sein für Veränderungen, die an kaum jemandem vorbeigehen werden, auch nicht an der Deutschen Rentenversicherung und der IT-Abteilung.
Ihr Haus hat ein „InnovationLab“. Was steckt dahinter?
Joos: Wir haben das InnovationLab als IT-Abteilung für das Unternehmen gebaut und Mitte 2019 in Betrieb genommen. Unser Ziel war es, insbesondere cross-funktionale Teams mehr zusammenzubringen und enger mit der Fachseite zusammenzuarbeiten, um neue Ideen zu entwickeln. 50 Prozent der Veranstaltungen im InnovationLab sind gemeinsame Veranstaltungen von Fachseite und IT. Manchmal werden die Räumlichkeiten auch vom Management genutzt, gerne auch im Umfeld von Strategieworkshops.
Was hätten Sie gern im Instrumentenkasten, was privatwirtschaftlich geführte Unternehmen einfacher umsetzen können?
Joos: Wir haben einen hohen Spielraum, den wir ausnutzen dürfen. Ebenso können wir uns grundsätzlich des gleichen Instrumentenkastens bedienen. Ohne Akzeptanz bei den Mitarbeitenden können auch privatwirtschaftliche Unternehmen nicht alles umsetzen. Und auch dort gibt es eine Mitbestimmung. Bleibt das Gehaltsgefüge übrig, das immer gern angeführt wird. Für mich hat sich gezeigt, dass wir auch zu den Konditionen des öffentlichen Dienstes gute neue Kolleginnen und Kollegen gewinnen können.
Umgekehrt gefragt, worum beneiden Sie privatwirtschaftlich geführte Unternehmen überhaupt nicht?
Joos: Die Veränderungen, die dadurch entstehen, dass man über Nacht aufgekauft werden kann und egal, wie gut das Produkt war, dann nicht weiß, ob und wie es weitergeht.
Wenn wir uns in einem Jahr wiedertreffen würden zum Gespräch, was würden Sie sich bis dahin wünschen?
Joos: Dass im Rahmen von COVID-19 wieder mehr Normalität eingekehrt ist und unsere Gesellschaft auch in dieser Krise ihre Belastungsprobe bestanden hat.
Krämer: Ich wünsche mir zusätzlich, dass uns eine wirtschaftliche Katastrophe erspart bleibt. Irgendwann müssen ja auch all die Mittel wieder zurückgezahlt werden, die derzeit zur Stützung der Konjunktur aufgenommen werden. Zudem hoffe ich, dass wir politisch durch den Bundestagswahlkampf keine weitere Phase der Stagnation erleben. Und ich setze darauf, dass Europa wieder erstarkt und gemeinsam die Weichen für die Zukunft stellt. Ein erstes gutes Zeichen in diese Richtung: Die Wirtschaftsminister Frankreichs und Deutschlands, Bruno Le Maire und Peter Altmaier, wollen mit Gaia-X einen globalen europäischen, weltweit beachteten Goldstandard für Cloud-Dienste schaffen. Der nun unter Dach und Fach gebrachte Brexit-Vertrag mit Großbritannien sowie der Wechsel der Präsidentschaft in den USA hin zum Europa zugewandteren Joe Biden sind zugleich Rahmenbedingungen, die uns Mut machen sollten für die nähere Zukunft.