Big Data, Vernetzung und Künstliche Intelligenz treiben die Digitalisierung des Gesundheitssystems voran. Neue intelligente und plattformbasierte Anwendungen sollen die Qualität der medizinischen Versorgung weiter verbessern und mit individuellen Lösungen dafür sorgen, dass wir gar nicht erst krank werden.
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Roboter unterstützen Chirurgen im OP, Software-Programme die Auswertung von Röntgen- und MRT-Bildern. Labore analysieren Blut- und Urinproben vollautomatisch. Die Digitalisierung bisher analoger Prozesse beschleunigt die Modernisierung des Gesundheitswesens in vielen Facetten. Auch Video-Sprechstunden gehören laut dem IT-Branchenverband Bitkom inzwischen in mehr als 25.000 Arztpraxen zur alltäglichen Versorgung, seitdem die Corona-Pandemie den Arztbesuch erschwert.
Doch schon längst arbeiten Wissenschaftler, Mediziner und Ingenieure an ganz neuen digitalen Anwendungen. Sie wollen Erkrankungen nicht nur frühzeitig erkennen, sondern vermeiden. „Die Diagnostik und Therapie der Herzkreislauferkrankungen zum Beispiel ist hoch technisiert und rettet bereits viele Menschenleben. Prävention aber rettet noch mehr Leben“, sagt Dr. Enise Lauterbach. Die Kardiologin aus Trier hat im Klinikalltag und in der kardiologischen Reha jahrelang Erfahrungen sammeln können, bevor sie sich auf Anregung eines Ihrer Patienten als Gründerin mit LEMOA medical selbstständig machte.
Dr. med. Enise Lauterbach
Gründerin und Geschäftsführerin
LEMOA medical GmbH & Co. KG
Prävention ist die beste Gesundheitsversorgung
In ihrem Start-up hat sie „Herz-Held“ konzipiert, eine App für Herzinsuffizienz-Patienten, „die ein digitaler Coach mit einem smarten Frühwarnsystem ist“, wie sie selbst sagt, „die App ist inzwischen bei Testpatienten im Einsatz, hat Simulationen fehlerfrei bewältigt und erfüllt die Vorgaben der Digitalen Gesundheitsversorgung.“ Die App sammelt Patientendaten wie Blutdruck, Herzfrequenz, Gewicht und Aktivität und vergleicht sie plattformbasiert mit einem Daten-Pool. „Das ermöglicht uns, Muster zu erkennen und frühzeitig, im Idealfall präventiv einzugreifen“, sagt die erfahrene Kardiologin. Sie sieht erhebliche Versorgungslücken bei den mehr als 2,5 Millionen Herzschwäche-Patienten in Deutschland und will mit dem „Herz-Held“ deren Regelversorgung revolutionieren. Sie sagt: „Die beste Gesundheitsversorgung heißt Prävention.“
Auch Anita Kraker von Schwarzenfeld ist fest davon überzeugt, dass integrierte digitale Lösungen mit einer breiten Datenbasis in der Medizin Lücken schließen können. Sie leitet beim Pharmakonzern Bayer ein multidisziplinäres und funktionsübergreifendes Team für die Entwicklung neuer digitaler Gesundheitslösungen. „Wir können bei unserem ganzheitlichen, datenbasierten Ansatz mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten, wo die Ärzte sich bisher oft nur auf die subjektive Beschreibung von Symptomen der Patienten stützen konnten.“ Im Fokus ihres Teams liegt die Entwicklung integrierter Anwendungen für Frauen. Frau Kraker von Schwarzenfeld hatte sich mit diesem Schwerpunkt schon zuvor in einem Start-up in den USA beschäftigt. Zwar ist die Erkenntnis, dass Frauen in der Gesundheitsversorgung benachteiligt sind, nicht neu, doch erst allmählich wird bei der Behandlung berücksichtigt, dass dieselbe Krankheit bei Frauen und Männern unterschiedliche Ursachen haben und andere Symptome zeigen kann.
Anita Kraker von Schwarzenfeld
Ventura Lead & Product Owner
Women's Healthcare, Bayer AG
Big Data ist in der Medizin unerlässlich
Der Organismus von Frauen und Männern unterscheidet sich auf zellulärer Ebene. Es gibt erhebliche Unterschiede, die entscheidend sind für die Entwicklung von kardiovaskulären Erkrankungen. Beim Herzinfarkt ist dieser Sachverhalt mittlerweile am besten erforscht. „Das hat aber in der Praxis kaum Beachtung gefunden. Herzinfarkte bei Frauen werden häufig nicht erkannt und ergo nicht therapiert“, betont Dr. Lauterbach. Werden sie doch erkannt, werde oft nicht optimal versorgt, weil Frauen in klinischen Studien oftmals unterrepräsentiert sind. „Uns fehlen viele Daten. Big Data ist für die Gesundheitsversorgung der Frauen unerlässlich!“ Und auch Männer würden von datenbasierten medizinischen Erkenntnissen individuell profitieren können.
Der Integrated Care-Ansatz der Bayer-Wissenschaftler geht noch weiter. Sie berücksichtigen in ihrem ganzheitlichen Konzept zur Gesundheitsversorgung auch lebensweltliche Rahmenbedingungen. Mit anthropologischen und ethnografischen Methoden beleuchten sie: Welche Rolle spielen das Wesen oder die Herkunft eines Menschen für seine Erkrankung? Was hat sein individuelles Verhalten dazu beigetragen? Wie kann eine Patientin ihre individuellen alltäglichen Gewohnheiten verändern, um den Genesungsprozess zu befördern? Für Anita Kraker von Schwarzenfeld geht es um konkrete und persönliche Hilfestellung beim Umgang mit Beschwerden - darum, mit kleinen Veränderungen über einen längeren Zeitraum zu einem gesundheitsfördernden Verhalten der Patienten zu kommen. Im Idealfall berücksichtige die Technologie dabei alle relevanten Informationen, prägende Rahmenbedingungen, Lebensweise, Ernährung und Aktivität. Künstliche Intelligenz könne so Muster gesundheitsschädlichen Verhaltens erkennen und mit dem vergleichenden Datenschatz der digitalen Plattform zur Gesundheit beitragen.
Mehr Selbstbestimmung für den Patienten
„Digitale Gesundheitsanwendungen können dem Patienten mehr Selbstbestimmung geben“, betont Dr. Lauterbach. Ein Patient, der seine eigenen Gesundheitsdaten kenne, erlange wichtiges Wissen und werde „sein eigener Experte“. Die Digital-Pionierin ist sich sicher, dass ein aufgeklärter und aktiv mitbestimmender Patient sich nicht mehr auf seine Krankheit fokussiert, sondern sich daran orientiert, was seiner Gesundheit dient. Nach Ansicht beider Expertinnen wird die Digitalisierung des Gesundheitssystems als ein treibender Faktor das Leben vieler Patienten verändern und verbessern. Auch Pflegekräfte und Angehörige könnten einbezogen, durch Überwachung und Fernversorgung aber gleichzeitig entlastet werden. Vernetzte digitale Systeme werden dazu beitragen können, den Mangel an Pflegepersonal in unserer alternden Gesellschaft ergänzend zu kompensieren und auch die ärztliche Versorgung der Menschen in strukturschwachen ländlichen Gebieten zu optimieren.