Wenn Gia Thi Nguyen über den digitalen Wandel spricht, lässt er mitunter beiläufig das Kürzel BTS fallen. „Bislang hat mich noch kein Zuhörer jemals gefragt, was BTS eigentlich ist“, sagt der Siemens-Manager, der bis vor kurzem als Head of Operational Excellence für die Einheit Digital Industries beim Münchener Technologie-Konzern fungierte und demnächst eine neue Funktion übernimmt. BTS, das ist eine südkoreanische Boygroup, und Nguyen erwähnt das Kürzel gern, um darzustellen, was seiner Ansicht nach schiefläuft, wenn Menschen über die digitale Transformation sprechen. „Jeder will Experte sein, niemand möchte zugeben, dass er den Begriff, der gerade genannt wurde, nicht kennt“, so Nguyen. „Dabei müssen wir doch vor allen Dingen richtige Fragen stellen, denn nur so erhalten wir die richtigen Antworten.“
Doch nicht nur dem Buzzword-Bingo vermeintlicher Technologie-Experten steht Nguyen skeptisch gegenüber. In seinem Verständnis von digitalem Wandel steht weniger die Technik als vielmehr der Mensch im Zentrum. Digitale Transformation, so hat er es einmal auf den Punkt gebracht, sei nur zu einem Prozent digital, zu 99 Prozent aber menschlich. Was genau er damit meint, verrät der Siemens-Experte im Gespräch mit Jochen Bechtold, der beim Beratungsunternehmen Capgemini den Bereich „Manufacturing & High Tech“ leitet.
„Jede Technologie wird vom Menschen kreiert und muss dem Menschen dienen“, sagt Nguyen. „Natürlich ist etwa ein iPhone ein fantastisches Gerät, dessen technische Vorzüge sich ausführlich beschreiben lassen. Ein iPhone für die Großmutter aber ist nicht in erster Linie ein tolles Gadget, sondern ein Mittel, um ihr den Kontakt mit den Enkeln zu ermöglichen. Das muss im Vordergrund stehen.“
Den Mitarbeitern Perspektiven bieten
Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, das heißt für Nguyen auch, ihm die Angst zu nehmen, in einer technologisch geprägten Arbeitswelt überflüssig zu werden. „Die Trennlinie verläuft ja gar nicht zwischen Mensch und Roboter, sondern zwischen Mensch und Mensch, der Roboter baut. Natürlich können Maschinen viele Arbeiten effizienter erledigen“, weiß Nguyen. „Aber Effizienz ist an sich nichts Schlechtes, und es liegt in der Natur des Menschen, Ineffizienzen ausgleichen zu wollen. Schließlich möchte niemand ein ganzes Arbeitsleben lang eine stupide, ineffiziente Arbeit erledigen.“
Wichtig sei hier, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern Perspektiven anbieten. Etwa so: „Du arbeitest jetzt zwei Jahre an diesem Projekt, und in dieser Zeit kümmern wir uns darum, dir ein neues Aufgabenfeld für die Zeit danach zu schaffen. Und wenn tatsächlich Roboter Aufgaben von dir übernehmen, schaffen wir ein Umfeld, in dem deine Kompetenzen, alt und neu, an anderer Stelle gebraucht werden.“
Dass noch immer viele Unternehmen sich schwertun, ihre Mitarbeiter sinnvoll in den technologischen Transformationsprozess einzubinden, weiß auch Jochen Bechtold, der beim Beratungsunternehmen Capgemini den Bereich „Manufacturing & High Tech“ leitet: „Viele Unternehmen investieren zwar in Technologie, sie drücken sich quasi selbst den digitalen Stempel auf die Stirn, vergessen dabei aber, ihre Mitarbeiter mitzunehmen. Mehrwert entsteht aber nur dann, wenn Mitarbeiter bereit und in der Lage sind, Technologie in ihren Arbeitsalltag zu integrieren. Unternehmen müssen erkennen, dass sie neben der Technik auch in die Befähigung ihrer Mitarbeiter investieren müssen, wenn sie Erfolg haben wollen.“
Der Mensch darf nicht zum Roboter werden
Die aktuelle Corona-Pandemie wirke hier wie ein Katalysator. „Hätten wir die Pandemie vor 10 Jahren gehabt, wären die Auswirkungen sicher noch deutlich größer gewesen“, sagt Bechtold. „Technologie hat in der aktuellen Situation, aber auch an anderer Stelle eine wichtige Rolle gespielt als Befähiger. Menschen arbeiten im Homeoffice und kommunizieren ganz selbstverständlich per Videochat, während man vor Corona gegen Windmühlen kämpfte, wenn man so etwas in Unternehmen etablieren wollte.“ Letztlich, so die Hoffnung von Bechtold, wurde eine Menge an Berührungsängsten abgebaut.
Die ehemals scharfe Trennung von Technologie für den privaten und für den beruflichen Raum löst sich langsam auf, ist auch Gia Thi Nguyen überzeugt. „Wir erleben, wie sich die beiden Pole annähern – hier die positiv besetzte, weil den eigenen Alltag erleichternde Technologie, dort die mitunter als bedrohlich empfundene, weil Job-gefährdende berufliche. Wobei ich selbst keine Angst davor habe, dass Maschinen mir den Job wegnehmen. Eher sehe ich die Gefahr, dass wir selbst zu Robotern werden, indem wir kaum noch ohne Technik – etwa Smartphones – ‚funktionieren‘.“
Befragt nach Ländern, in denen er seinen auf den Menschen zentrierter Technologie-Ansatz bereits verwirklich sieht, verweist Nguyen auf den asiatischen Raum – betont aber zugleich, welche Chancen er für Europa im Vergleich etwa zu Asien oder Nordamerika sieht: „Weil wir uns in Europa verstärkt auch mit ethischen Fragen auseinandersetzen, können wir einen Gegenpol bilden zu stärker restriktiven oder rein ökonomischen Ansätzen. Damit könnten wir eine Art moralischen Kompass etablieren dafür, wie wir in Zukunft mit Technik leben wollen.“