Programmieren per Drag-and-Drop und ohne große Entwickler-Skills? Das sollen Low-Code-Plattformen leisten. Doch ist das direkt die Lösung aller IT-Probleme?
Wie können wir unsere Programmierer von Routinen entlasten, damit mehr Zeit für komplexe Aufgaben bleibt? Vor dieser Frage stand der Automobilzulieferer Continental aus Hannover. Der Konzern suchte deshalb eine niedrigschwellige Programmierplattform, mit deren Hilfe Fachabteilungen erste Schritte der benötigten Anwendungen selbst würden bauen können. Er fand eine Low-Code-Plattform, durch die Applikationen sich erheblich schneller umsetzen lassen. Oder wie es Sven Fleischer, Global Team Lead Finance IT bei Continental, auf den Punkt bringt: „Das ist eine Wahnsinns-Beschleunigung der Entwicklungszeit.“
Und die Entwicklungszeit ist es, die immer öfter über den Erfolg entscheidet. Längst zählt nicht mehr allein die gute Idee, sondern die Zeitspanne bis zur Marktreife, haben Unternehmen wie Continental erkannt. Im Zuge der Digitalisierung wird Geschwindigkeit für sie zum wesentlichem Wettbewerbsfaktor. Um neue Produkte immer schneller anzubieten, nutzen viele Unternehmen bereits im frühen Entwicklungsstadium „Minimum Viable Products“, kurz MVPs. So können sie Produkte früh am Kunden testen und deren Feedback in die weitere Produktentwicklung einfließen lassen.
Um bei der hohen Schlagzahl an neuen Produkten und Dienstleistungen mithalten zu können, müssen Unternehmen ihr Effizienzpotenzial sowohl für interne Prozesse als auch für die Abläufe ihrer Produktion ausschöpfen. Doch die ehrgeizigen Pläne werden oft von der Realität eingeholt: Die Zahl der Änderungswünsche ist hoch, die hauseigene IT und die zugehörige Abteilung haben ihre Grenzen und externe Plattformen stecken einen engen Rahmen. So gestaltet sich die Entwicklung von Apps für das eigene Unternehmen oft lang und kompliziert. „Es gibt einen hohen Bedarf an leichtgewichtigen Anwendungen, weil die klassische Software-Entwicklung oft auch aufgrund höherer Anforderungen zu langsam Ergebnisse liefert. Programmieren muss da, wo es möglich ist, einfacher werden“, sagt Lukas Birn, IT Transformation Director Digital Manufacturing bei dem Beratungsunternehmen Capgemini.
So genannte „Low-Code-Plattformen“, eine Weiterentwicklung des Rapid Application Development, stoßen genau in diese Lücke. Mit Hilfe vorgefertigter Software-Elemente können auch Mitarbeiter wie Business Analysten oder Ingenieure dank visueller Drag-and-Drop-Komponenten an Anwendungen arbeiten. Mit Low Codes lassen sich mobile Apps ebenso erstellen wie schnelle Apps im IoT-Bereich und in der Prozessautomatisierung. Die Plattformen bilden dabei den ganzen Prozess ab – von der Planungsphase über Entwicklung und Abnahme bis zum Betrieb.
Weil Low Codes das Schreiben von Programmierzeilen überflüssig machen oder zumindest deutlich reduzieren, sind sie oft eine zeit- und kostensparende Alternative zum klassischen Programmieren. Das hilft insbesondere Unternehmen mit begrenztem IT-Personal. Sie sparen wertvolle Entwicklungszeit und können neue Funktionen schneller erstellen, testen, ausbauen und skalieren. Zugleich sinken dank vordefinierter Bausteine sowohl Fehlerrisiko als auch Ausfallzeiten. Damit verkürzt sich die Zeitspanne von der Idee bis zum ersten praktischen Kundennutzen beispielsweise für Industrie-Investitionen in vernetzte Sensorik. Die Innovationsgeschwindigkeit des Unternehmens steigt. Ziel erreicht.
Wie Fahrzeuge im Sprint entstehen
Wenn es darum geht, Entwicklungsprozesse radikal zu beschleunigen, orientieren sich Unternehmen zunehmend an der Softwarebranche. Was das bewirken kann, zeigen zwei Beispiele aus der Automobilbranche.
Die nach eigenen Aussagen weltweit führende Platform as a Service für Low Code mit offenen Schnittstellen, Services und Support stammt von Mendix mit Sitz in Boston; mittlerweile ist der Anbieter eine Tochter des Siemens-Konzerns. Frederik Goergen, Country Manager DACH bei Mendix, setzt für die Weiterentwicklung der Plattform auch auf die Unterstützung durch Künstliche Intelligenz (KI). „Wir bieten mit Mendix Assist einen KI-Assistenten, der in Echtzeit Vorschläge für die nächsten Entwicklungsschritte sowie Empfehlungen für Qualität, Leistung und Wartung mit 90-prozentiger Genauigkeit liefert – oder für erfahrene Programmierer auch als digitaler Paarprogrammierer fungieren kann“.
Zusätzliche Möglichkeiten aus der Nutzung von Low Code ergeben sich aus der Kombination von KI mit Echtzeitdaten. Vor allem auf Industriekunden zielt die MindSphere-Plattform von Siemens. Sie sollen auf diesem Weg die cloudbasierte Entwicklung von IoT-Apps beschleunigen können. Künftig sollen sich auch VR-Anwendungen für die Microsoft HoloLens erstellen und ausprobieren lassen. Charme hat die Mendix-Plattform aus Sicht ihrer Nutzer aber auch durch ihre native Einbindung von SAP HANA und IBM Watson. „Deren Kunden können ebenfalls mit Mendix Anwendungen erstellen und in ihrem jeweiligen Ökosystem einsetzen“, so Goergen. Davon profitieren auch die Software-Riesen selber: Die Zufriedenheit ihrer Kunden dürfte steigen, weil sie Erweiterungen schneller und einfacher als bisher realisieren können.
Auf der Suche nach einer geeigneten Low-Code-Plattform hat sich Continental nach einem längeren Auswahlprozess für Mendix entschieden. Der Automobilzulieferer setzt die Plattform für die binnen zwei Jahren geplante Umstellung von Lotus-Domino-Anwendungen auf Low-Code-Applikationen ein. Dafür wurden vorhandene Applikationen wie das Dokumentenmanagement unter anderem danach klassifiziert, wie gut sie sich durch standardisierte, externe Applikationen ersetzen lassen. Die erste Anwendung, die Continental mit Mendix gebaut hat, war ein recht komplexer Fall – und dennoch wurde die Premiere zum Erfolg: „Wir haben die Applikation innerhalb von Domino vor ein paar Jahren schon einmal migrieren müssen, damals von einer Domino-Technologie auf eine andere. Das hat damals mit einem Entwicklungsteam mehr als ein Jahr gedauert. Jetzt haben wir die Applikation mit Mendix innerhalb von zwölf Wochen eins zu eins nachgebaut“, sagt IT-Experte Sven Fleischer.
Doch auch auf Low-Code-Plattformen entsteht die neue Software nicht völlig ohne Fachkenntnisse. Lukas Birn von Capgemini berät Unternehmen zu deren Einsatz. Er sagt: „Das Maß an technischem Wissen, das Unternehmen und Mitarbeiter auch mit Erfahrungen in Software-Entwicklung für Low-Code-Software brauchen, ist nicht zu unterschätzen. Die Grenzen sind erreicht, wenn es um sehr hohe Komplexität und hohe Transaktionsvolumina geht. Bei solchen Anwendungen bleiben die etablierten, eher schwergewichtigen Entwicklungsvorgehen das Mittel der Wahl.“ Das gilt wohl auch für das so genannte No-Code-Programmieren: Damit können auch Nicht-Programmierer mittels sehr einfacher Entwicklungswerkzeuge kleine Anwendungen mit meist begrenzten Fähigkeiten erstellen.
Für Birn liegt der Vorteil von Low-Code-Anwendungen à la Mendix nicht zuletzt im Zwischenmenschlichen: „Diese Plattform ist nicht die Lösung aller IT-Probleme, aber sie lässt erheblichen Dampf aus dem Kessel der IT-Abteilungen. Die internen Auftraggeber und die Software-Entwickler kommunizieren leichter und ihre kollaborative, agile Zusammenarbeit wird zu einem positiven Erlebnis.“ Keine Selbstverständlichkeit im Umgang mit IT.